Andreas Unterweger

Landschaften Seelenzustände

Posted in Grazer Glossen by andreasundschnurrendemia on 12. Juni 2010

Vor sechs Tagen in der Zeitung (und zwar in G7, der Grazer Stadtzeitung der Kleinen Zeitung), aber auch heute noch aktuell:

LANDSCHAFTEN SEELENZUSTÄNDE

„Keine Landschaft ist ein Seelenzustand“, heißt es in einem Gedicht von Lars Gustafsson, „aber einige Seelenzustände sind Landschaften“ – und wenn das wahr ist (was es sein muss: schließlich steht es in einem Gedicht), dann, so scheint mir, trifft diese eigenartige Verquickung von äußerer und innerer Wirklichkeit insbesondere auf die Landschaften der Kindheit zu. In meinem Fall sind das: die Straßen, Plätze, Parks und Gstettn von Graz.
So kenne ich etwa auch heute noch, obwohl ich nicht mehr dort wohne, einen Seelenzustand, der sieht aus wie eine Gegend im Osten von Lend: Schotter, dürre Grasbüschel, Schlamm – Brachland unter grauem Himmel – darin eine Pfütze, um die, stumm und einsam, ein großer schwarzer Vogel stakst…
Glücklicherweise aber gibt es ja in Graz (sprich: in mir), abgesehen von dem soeben beschriebenen, (fast) nur heitere Orte. Jenen z.B., an dem alles ganz leicht ist, leichter als „federleicht“, so leicht wie die zahllosen weißen Pollen, die – über tosende schwarze Wasser hinweg – von einem Murufer zum andern treiben. Oder diesen hier: blau – wie das Oval eines Swimmingpools draußen in Andritz. Oder den dort, unter Renaissance-Arkaden, wo es nach Schokolade-Eis schmeckt – ich brauche nur am Landhaushof vorbeizugehen, schon liegt es mir wieder, kalorienfrei süß, auf der Zunge!

Ja, es hat zweifellos seine Vorteile, in einer Stadt zu leben, die an allen Ecken und Enden von urtümlichen, ersten Eindrücken geprägt ist – Eindrücken, die so intensiv sind, dass sie auch Jahrzehnte später noch die Befindlichkeit diktieren… Ob es jedoch das unbeschwerte Leben im Hier und Jetzt begünstigt, ist weniger gewiss.
So erinnere ich mich daran, dass die allmorgendliche Busfahrt meiner Studienzeit (vom Lendplatz zur Uni) – für mich, den gebürtigen Grazer (im Gegensatz zu den Kärntner Kommilitonen, die stets gelassen, wie Touristen auf Stadtrundfahrt, aus den Fenstern schauten) – einer emotionalen Achterbahnfahrt glich.
Die wirklichen Namen der Haltestellen wurden über Lautsprecher durchgesagt – die wahren, nur mir bekannten Stationen meiner Seelenreise aber hießen: „Nostalgiebrücke“ (an ihr lag mein Elternhaus), „Schockstraße“ (Schauplatz eines Fahrradunfalls), „Übermutgasse“ (da hatte ich den ersten Rausch), „Überdruss-Platz“ (dort den zweiten), „Erste Liebe-Park“ und schließlich, zu schlechter Letzt: „Gebrochenes Herz-Universität“… Kein Wunder, dass ich oft schon eine Station vor den Hörsälen ausstieg – um mich den Rest des Tages im Café Harrach (auch ein Seelenzustand!) von den Strapazen der Anfahrt zu erholen…
Und vielleicht lag es ja auch an der allzu bedeutungsschweren Umgebung, dass ich, solange ich noch in Graz wohnte, nie Zeit für das fand, was ich immerzu wollte: schreiben. Wie soll man denn auch die Dinge beim Namen nennen, wenn auf jedem einzelnen, unübersehbar, bereits das Post-it einer früheren Erinnerung klebt?
Insofern war es wohl die richtige Entscheidung, meine schöne Geburtsstadt – spät, aber doch – in Richtung weniger bekannter Gefilde zu verlassen… Nach Graz komme ich ja ohnehin oft genug zurück. Es reicht schon, die Augen zu schließen.

Zu meiner ersten Grazer Glosse, „Mein Uhrturm“

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