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„Von unserem Sonderberichterstatter in Poesie“ (manuskripte 218)
Mein eigener Beitrag zu Ausgabe 218 der manuskripte ist die Übersetzung von Guillaume Métayers Essay „Von unserem Sonderberichterstatter in Poesie“.
Der französische Dichter, Übersetzer und Geisteswissenschaftler Guillaume Métayer war im Juni 2017 im Rahmen des Programms „Styria Artist in Residence“ des Landes Steiermark in Graz zu Gast – wir sonderberichteten!
Hier schildert er seine Eindrücke: Graz, die Steiermark und Österreich von aussen, sozusagen – oder die Fremde des Nahen. Und nicht zuletzt eine Art Fest des Huhnes …
*
Guillaume Métayer
Von unserem Sondergesandten in Poesie
Obwohl Mallarmé notorisch zwischen der „universellen Reportage“ und der „Literatur“ unterschied, lässt sich doch, zumal in unserer überinformierten Welt, eine Form der Reportage imaginieren, die sich in den Dienst der Poesie stellt. Eine Erzählung jener Dinge, die sich unentwegt in „der Literatur“ oder rund um sie ereignen, die sie da und dort noch möglich machen, von denen aber niemand oder fast niemand je spricht, außer vielleicht in den ebenso erlaubten wie an den Rand gedrängten Formen der Memoiren und des Interviews, wo sie aber zum Freizeitvergnügen verflachen. Dies fortzuspinnen könnte eine Art „Rettendes in der Gefahr“ bedeuten, ein Gegenfeuer, das an der Schwelle zur Niederlage entfacht wird. Ein Gedanke des argentinischen Dichters Arnaldo Calveyra kommt mir in den Sinn: Die Zeitungen berichten zwar davon, dass einer seinen Nachbarn mit Messerstichen getötet habe, erwähnen aber nie, dass ein anderer, am selben Nachmittag, ein Gedicht schrieb. Von dieser Literaturzeitung, die so geräuschlos ist, dass sie sich häufig im Intimen einschließt, könnten wir, „eines Tages“, versuchen, ein Fragment zu skizzieren, das uns andere Informationen zusteckte als jene, die von allen bis zum Überdruss kommentiert werden („die Aktualität“), mit von hier und anderswo eingeschmuggelten Gedichten – schließlich darf das, was so vertraulich ist, durchaus ein bisschen geheim sein, braucht es Sonderberichterstatter in Poesie, wie in einem fernen Land. Es könnte also der Versuch unternommen werden, zu berichten, zu importieren und, aus allen möglichen Sprachen (hier aus dem Deutschen), zu übersetzen, die Ausfaltungen der Verdrängung der Poesie, die unsere Zeit zu erleben scheint, zu erforschen – eine Verdrängte, deren überschwängliche Rückkehr sich logischerweise in der Phrase „Alles ist Dichtung außer dem Gedicht“ ereignet (den Syllogismus, der dieser Phrase innewohnt, hat Martin Rueff jüngst angeprangert). Kurz, wir könnten auf eine bescheidene, nichtsdestotrotz europäische Weise versuchen, uns dem Gedicht zu nähern, es zu sich zu bringen, es dorthin zu rufen, wo es noch nicht ist, und es da zu erraten, wo es schon fehlt. Als ersten Versuch schlage ich bereitwillig vor, dem Verlauf eines hübschen kleines Flusses, der Mur, für einige Kabellängen zu folgen.
Das letzte Gasthaus
Mitteleuropa ist ein Gasthaus, das geschlossen hat, in dem man aber trotzdem noch bedient wird.
Nicht jeder, natürlich – nur die alten Stammgäste. Man konnte sie nicht einfach so, ohne ihr Lieblingsgasthaus, zurücklassen.
Sie wussten genau, dass hinter dem niedrigen Holzzaun, hinter den Paradeiser- und Paprikapflanzen, noch die Sonnenschirme stehen, mit den verschwundenen Biermarken darauf. Und darunter: einige Plastiktische.
Und so haben sie die Tür aufgestoßen und sind eingetreten, als ob nichts wäre.
Der Wirt und seine Frau wirkten nicht überrascht, sie zu sehen.
Man hätte meinen können, sie hätten alles vorbereitet.
Jedenfalls ist aufgedeckt.
Heute servieren sie ihr letztes Backhuhn. Oder das vorletzte. Aber immer das letzte. Bis zum nächsten Mal. Das nächste Mal, das allerletzte Mal, dass der klapprige Trupp der Stammgäste mehr schlecht als recht in diese Ecke Land in der Stadt, weiter unten am Fluss, bei der Parkhaus-Baustelle, gestolpert kommt.
Zu einem Termin, der in keinem Kalender steht.
Als Beilage zum Geflügel gibt es Salat aus dem Garten in einer wässrigen Sauce, deren Grundlage Kürbiskernöl ist – jenes Kürbiskernöl, das die slowenischen Nachbarn sich anzueignen versucht haben, das aber unser ist. Österreichisch bis in alle Ewigkeit – mit einem Faktum müssen wir uns nicht brüsten. Kürbiskernöl, im Original deutsch. Kürbisöl wäre ungenau. Ein Wort muss sich an eine Sache heranzoomen können, Stück für Stück. Also Kürbiskernöl.
Achtung, es darf nichts vermischt werden: Der Salat wird auf einem eigenen Teller serviert. Später geht die Wirtin wieder vorbei, die Salatschüssel gegen die Schürze gestemmt, die Servierzange in der Faust, wie um die Hühner zu füttern. „Später!“, schreit einer. „Es gibt kein Später“, erwidert sie jovial. Es ist ja das letzte Mal!
Der Wirt schleppt seine humpelnde Leibesfülle mehrere Male bis an den Tisch. Er ist mit weißem Spritzer beladen, es sieht aus wie ein Gleichgewichtsspiel. Weißwein mit Soda vermischt, ein bisschen nach dem Muster der Salatsauce. Bei fünfunddreißig Grad im löchrigen Schatten der Sonnenschirmrentner ist es kein Luxus, den Wein mit Wasser zu versetzen. Der Luxus besteht eher darin, dass er, der aus dem Verkehr gezogene Wirt, unser Mundschenk ist.
Dass er, für uns allein, das Kapital seiner letzten Anstrengungen verschleudert. Jede seiner Gesten, selbst die ungelenkigste, wird dadurch verschönert, nahezu perfekt. Oh, dass er niemals wieder ein Glas, selbst ein einzelnes, anders bringen wird als so, auf diesem kleinen, schwankenden Tablett mit dem schief platzierten Geschirrtuch darauf!
Eine Hommage, und dennoch: Es ist alles sehr familial hier, sagt mein Sitznachbar, äußerst erfreut, während er sich eines panierten Hasenohrs bemächtigt, von dem zahlreiche Ohrläppchen abstehen. Mit Radioaktivität hat das nichts zu tun, es ist nur die Leber des Huhns, die sich in der Panier ausdehnt und verfestigt.
Die Wirtin umkreist den Tisch mit einem Topf voll Reis. Sie lässt es auf jedem Teller mit ihrem Schöpflöffel zweimal klingeln. Ein Löffel für Mama, ein Löffel für Papa. „Papa“, so verabschiedet man sich hier. In der mit weißen Mischungen gespritzten Sonne macht das fast schon Sinn.
Die Wirte verteilen bereitwillig Herr Professors, aber woher wissen sie, wer tatsächlich die höchsten universitären Stufen erklommen hat?
Vielleicht aber ist Professor hier auch etwas ganz anderes. Ein Titel, den man niemals anders als honoris causa verleiht, nach langen Jahren endloser Diskussionen im Inneren eines emeritierten Gasthauses.
Professor, ist das nicht derjenige, der immer am Kopf des Tisches sitzt, dem die Gelehrten reiferen Alters ihre respektablen, kaum von der Frittüre benetzten Schnauzbärte zuwenden?
Professor, ist das nicht derjenige, der am Ende die Scheine zückt?
Professor, der, dessen Scheine man immer zurückweist?
Die Gestik, das steht fest, ist rituell: Du zückst die Scheine, ich weise sie zurück: Nein, nein, Herr Professor. Ihre essentielle Funktion ist es, den Professorenstatus des Professors zu bestätigen.
Nein, Professor, also.
Und außerdem haben wir jetzt geschlossen, wie Sie wissen. Ich habe also keine Kasse mehr. Und wenn ich ihr Geld nähme, dann würden mir die Beamten des Finanzamts Schwierigkeiten bereiten. Das einzige Mal, als ich es versucht habe, sind sie sofort gekommen. Wie der KGB. Man hätte meinen können, sie seien vom Dach gestiegen. Die Nachbarin mit dem Nussbaum war es vielleicht, die mich verraten hat, warum auch immer.
Die Angst vor dem Finanzamt ist ein taktvoller Vorwand, um das Geld zurückzuweisen: Ich verschmähe Ihr Geld nicht, Herr Professor. Ich erweise Ihnen nicht die immense Gunst der Kostenlosigkeit, nach der Sie allzu sehr in meiner Schuld stehen würden. Indem ich Ihnen dieses letzte Mahl anbiete, Ihnen und Ihren Jüngern, erspare ich mir Probleme, Sie verstehen.
Weil wir geschlossen haben, Herr Professor. Wir öffnen nur noch für Sie, einmal im Jahr, an einem beliebigen Tag, ausgerechnet an jenem, an dem Ihre zögerlichen Schritte Sie zu uns geführt haben. Selbstverständlich können Sie aber, wenn Sie darauf bestehen, etwas für die Getränke herlegen, wenn es Ihnen beliebt.
Und so wirft jeder seinen Schein auf den Tisch. Mit spitzen Fingern, wie man eben mit Geld umgeht, das nicht zum Zahlen da ist, das davon wie beschmutzt wirkt. Schließlich kann man die Summe, die man gibt, nur verachten – ist sie doch viel geringer als die Großzügigkeit, an der man teilhatte. Und weil das Ganze ja kein Mittagessen war, sondern nur eine Art Poker mit der Zeit. Wo man dann plötzlich zahlt, um „zu sehen“.
Um das Spektakel andauern zu lassen. Eine kleine letzte Runde für Österreich. Eine letzte Runde für Mitteleuropa.
Um die Welt aus dem Blickwinkel des geschlossenen Gasthauses zu sehen. Um für einen Moment aus diesem funktionierenden Universum auszusteigen. Um für einige Augenblicke abzudriften, wie ein Inselstück, das sich auf der Mur losgerissen hat und das sich schon lange vorsingt, dass es sein Slowenien wiedersehen wird, sein Kroatien, sein Ungarn.
Mit dieser Menge an Scheinen auf dem Tisch, all diesen Gelehrten, die wie zwielichtige Wetter aussehen. Aber es gab gar keinen Hahnenkampf, nur ein Backhuhn. Lange werden sie diese anrüchige Rechnung freilich nicht aufrechterhalten können. Denn sie haben nur dafür bezahlt, um zu sehen, wie es war. Schlimmer, vielleicht: um nicht zu sehen, wie es ist.
Wegen solcher Kleinigkeiten kommen die Finanzamtsbeamten nicht.
Und wenn sie kämen, sie würden sie schnell wieder laufen lassen, hinaus in diese funkelnde Welt, wo sie unaufhörlich dazu gezwungen sind, das zu essen, wofür man bezahlen muss.
Gratia
Warum hast du so schlecht gebucht? Lange musste ich mir vorhalten lassen, zum falschen Zeitpunkt angekommen zu sein. Weil ich ein Flugzeug reserviert hatte, das am Vorabend des Pfingstsonntags landete. Niemand wird in Graz sein, um dich zu empfangen. Niemand im ganzen Haus. In der ganzen Stadt kein offenes Café, wo man deine Schlüssel hinterlegen könnte. Warum hast du so schlecht gebucht? Du wirst in einem Hotel in Wien bleiben müssen. Auf deine Kosten, versteht sich. Und ab Dienstag früh in mein Büro kommen, um die Papiere zu unterschreiben und deine Schlüssel zu kriegen. Warum hast du so schlecht gebucht? wurde, im Geist wiederholt, bald zu einem Echo im Geist von Molières Was hatte er denn auch auf dieser Galeere zu suchen? Und so machte ich mich auf, um – gemäß Thomas Bernhard und Werner Schwab – Nazismen zu sammeln (wie es ja auch Barbarismen gibt). Ich war, wie jedermann, bereit, meinen schwarzen Stein zu werfen.
Und weil ich geglaubt hatte, in einer Bar ein Taufbecken gesehen zu haben, war es nur allzu leicht, daraus eine ganze Geschichte, ein ganzes Sonett gegen Graz zu machen:
Gratia
Um es allein zu tragen ist es zu schwer das Heil
So hatte man in Mitteleuropa den Gedanken
Eines totalen Sonderabverkaufs ohne Schranken
An einem Grabtuchzipfel hängt jeder hier zum Teil.
Vermehret Brot und Bier es wird keinem zu geil
Würstel des HErrn ein jeder hat im Gralschmalz die Pranken
Admiral Biedermeier schätzt es nicht sich zu zanken
Das Laschenschiff gibt träg´ er dem Untergang anheim
Man stolpert schon beim Eingang der Bars in ein Taufbecken
Kratér wohl den sangriaartig Blumen bedecken
Mit Muskatell´ betauft man sich ohne Unterlass
In diesen neuen Jordan tauchen hier alle ein
Man gratuliert sich und umarmt sich in dem Wein
Planscht rum und segnet sich noch in der kleinsten Gass.
Viel später bringt die nette Organisatorin meines Aufenthaltsstipendiums uns, eine rumänische Bildhauerin, ihren schachverrückten Freund und mich, zum Geburtshaus Arnold Schwarzeneggers. Wir besuchen die Kirche von Thal, die steirische Sagrada Família im Kleinformat. Man zeigt uns, am Ufer des Sees, das Boot des Versprechens, jenes „historische“ Kanu, in dem der Gouverneur von Kalifornien um die Hand einer brillanten Nachkommin Kennedys angehalten hat. Und dann das Kriegsdenkmal um die Ecke. Dort findet sich eine Europakarte, mit Kreuzen, die jene Orte bezeichnen, an denen Soldaten aus Thal gefallen sind. Ich finde das interessant, bedauere, so etwas in Frankreich nie gesehen zu haben. Meine Begleiter hingegen sind schockiert. Warum denn?, frage ich. Bei uns gibt es doch auch in jedem Dorf ein solches Denkmal. Brüder, Väter und Ehemänner sind gestorben. Es ist normal, ihrer zu gedenken.
– Mag sein, antwortet die Rumänin. Aber hier gibt es nicht das kleinste Monument, das der im Zweiten Weltkrieg ausgerotteten Juden gedenkt. In Österreich hat es keine Entnazifizierung gegeben.
In Österreich hat es keine Entnazifizierung gegeben. So lautet das Leitmotiv der Gespräche unter uns Emigranten. Ich wiederhole es, wie jedermann, möchte es glauben, glaube es, bin mir sicher. Ich erinnere mich an Waldheim, Haider, Hofer. Aber im Grunde weiß ich nicht, inwieweit es tatsächlich wahr ist. Dazu brauche ich mehr als nur eine Reportage. Ich bekomme eine Art Bestätigung in Romanform, als ich, spät, einen schönen Roman von Alfred Kolleritsch, Herausgeber der berühmten Zeitschrift manuskripte, entdecke. Allemann, 1996 bei Verdier auf Französisch veröffentlicht und damals auch wahrgenommen, beginnt mit einem Begräbnis. Irgendwo in der Steiermark, 1980er Jahre. Überall, zwischen den Gräbern und besonders um jenes herum, das gerade gegraben wird, strömen die Nazis zusammen. Sie steigen aus der Erde, aus dem Schatten, von den Bäumen, kommen wieder hoch wie der Wald bei Macbeth. Unter ihren Mänteln zeichnen sich die versteckten Kreuze ab. Kolleritsch beschreibt ihre Sprache mit der Feinfühligkeit eines Klemperer. Sie bedienen sich weiterhin der Sprache ihrer Väter und Großväter, um den Horizont zu verriegeln. Sie sagen weiterhin der Führer. Die Nachkriegsnazis bestatteten sich ebenso heimlich gegenseitig wie die Mormonen sich taufen. Das letzte christliche Sakrament wurde auf extreme Weise in eine nationalsozialistische Salbung verkehrt. Der Nazismus der Gräber – wie einst das Christentum der Krypten.
Und dennoch kann es das doch wohl nicht sein. Ich kann doch nicht in die Steiermark kommen, nur um die Fehler der Väter zusammenzuzählen und das Schweigen der Familien zum Schreien zu bringen. Man muss auch etwas anderes sehen, auch wenn dieser Knödel im Bauch bleiben wird, für immer, nie am selben Fleck, ohne je zu wissen, wo man ihn hinstecken soll und man ihn immer von einem Winkel des Bewusstseins zum anderen trägt.
Das wäre eine persönliche Niederlage, denn Österreich ist mein Missing Link. Die nationale Erziehung hat uns, den braven Germanisten der 1980er Jahre, hauptsächlich Deutschland nähergebracht. „Aus eigenem Antrieb“ (wie es in den Mitteilungsheften unserer Kindheit hieß) habe ich Ungarn erforscht, ohne die geringste Anziehung für das zu verspüren, was mir als weicher Bauch erschien, das no-man’s-land zwischen Berlin und Budapest. Kaum angekommen, verzapfe ich mein Vorurteil gegenüber einem ungarischen Freund: Österreich scheint keine eigene Identität zu haben. Es ist Deutschland ohne die Ernsthaftigkeit, die Schweiz ohne Geld, Italien ohne die Sonne, Frankreich ohne die Eleganz, Ungarn ohne das Feurige, Jugoslawien ohne das Körnchen Verrücktheit. Ich taufe es „Nélkülország“ (das „Ohneland“) … Einfach. Und undankbar … Sollte über Österreich zu schreiben immer schon meckern über Kakanien bedeuten? Mons murem peperit. Ad infinitum? Überladener Gigantismus einer verstaubten Provinz. Die Karosse, die zum Kürbis wurde. Kürbiskernöl für immer. Der tiefe Fall Mozarts, Schuberts, Kafkas, Roths und all der anderen in den Trichter des Schwejk.
Was ist Österreich? Eine absurde Frage, aber welcher Reisende hat denn nicht versucht, ein Bild der durchquerten Länder an sich zu reißen? Simple Selbstbeherrschung kann das nicht verhindern. Es sind Fragen, die man eher überanstrengen sollte als sie bei Spielbeginn zum Schweigen zu bringen. Und so stelle ich beim Betrachten der barocken Kirchen fest, dass es überall dieselben sind, von Györ bis Bratislava, über Maribor und Budapest. Eine Freundin aus Graz, die eben aus Lemberg (oder Lvov oder Lviv) zurückkehrt, hat dieselbe enthusiastische Wahrnehmung gemacht. Und es war übrigens ihr Großonkel, der die Oper von Lvov erbaut hat, eine Nachbildung der Oper in Wien. Des Mutterhauses, sozusagen. Die Konturen der ehemaligen pax austriaca wiederzufinden kann, ich weiß es wohl, nur zu einem allerersten Verständnis dessen führen, was hier geschieht. Am schlimmsten scheint mir, dass die Originalität oder wesentliche Überlegenheit der Metropole nicht bestehen bleibt. Kolonialismus kompromittiert, nicht einmal Rom vermochte dem zu entkommen. Dasselbe lässt sich zweifellos an den Mini-Kolosseen der Provence, den kleinen Parisen in Algerien beobachten. Am Ende ist es immer die Metropole, die lächerlich wirkt. Seid nicht fruchtbar, und mehret euch nicht. Österreich hat sich dieser Tatsache zu spät gebeugt und ist jetzt arm dran.
Da ich an die Kolonisierten ein Stückchen donauabwärts gewohnt bin, ist meine erste Vision von Österreich die von etwas Pneumatischem, um nicht zu sagen: Aufblasbarem. Als ob man das Ungarn, das ich kenne, mit Luft vollgepumpt und so im Ganzen erweitert hätte. Größer und imposanter, aber genau dasselbe.
Es ist entschieden nicht einfach, sich einen Weg zu Österreich zu bahnen. Sein Image als Aufbewahrungsort des Hasses und seine verkrampfte Gemütlichkeit verbieten es, sich an ihm zu erfreuen. Es ist leicht, mit Sissi und Waldheim die zwei Seiten derselben Medaille aufzuzeigen. Hier der Zucker, dort der Tod.
Am besten überlässt man wohl den Dichtern das Wort, um zu hören, wie sie sich und uns sehen. Als ich ihn um ein Gedicht über Europa bitte, schlägt mir Michael Hammerschmid, der mir freundlicherweise etwas Zeit in Wien widmete, als ich „so schlecht gebucht“ hatte, diese wenig aufbauenden Verse vor:
am boden saß der vogel
neben einem auto
und flog nicht fort
er saß am boden
braun gescheckt lebendig
die sonne schien
der sommer stand im becken
der stadt
der vogel blieb
am boden
nur die passanten
Andreas Unterweger gelingt es, als gutem Schüler Alfred Kolleritschs, dank einer doppelten Sprache von klinischer Präzision die Landschaften des „Vaterlandes“ (der „Heimat“) von Umweltpolitik künden zu lassen. Oder davon, wie der Atompilz und die oil company bis ins Land des Kürbiskernöls und der Sonnenblumen hinein eine Bedrohung darstellen.
Die Sonnenblumen
Die Sonnenblumen: strahlenkrank.
Den ganzen Sommer über
hielten sie vor dem Dorf die Stellung.
Hielten sie ihre Köpfe hin,
wenn aus dem Osten, Tag für Tag,
der Feuerball aufstieg, der Lichtblitz kam …
Unter den Pilzwolken, dem sauren Regen
die Sonnenblumen: schwer verstrahlt.
Und all das nur wegen dem bisschen Öl.
Und, um diese Eskapade abzuschließen, eine beunruhigende Anmerkung desselben Autors, in der sich zeigt, dass – in Ermangelung einer anderen Sprache als jener der Großväter – selbst die ländliche Idylle von der Erinnerung an und die Angst vor dem Krieg geformt wird.
GrossVaterSprache
Die Panzerwagen der Ernte-Division
sind gestern früh durch unser Dorf gerollt.
Vier Kilometer nördlich stand der Mais.
Sie mähten ihn, sie metzelten ihn nieder.
Erst gegen Abend herrschte auf dem Schlachtfeld
dann wieder Schweigen, sozusagen: Frieden –
das Wort, für das der Weltsprache der Kriege,
in der ich schreiben muss, die Bilder fehlen.
To be continued.
***
Hier zwei Rezensionen:
Die erste, private, stammt von einer Dame aus Graz. Ein Auszug:
„Ein ganz negativer, dunkler Befund. Ein typischer Österreicher fast.“
Die zweite, öffentliche stand in der Kleinen Zeitung v. 3.12.17 – danke, lieber Werner Krause!
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