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Guillaume Métayer: Drei Gedichte (manuskripte 224)
Mein persönlich(st)er Beitrag zu Heft 224 der manuskripte sind diese Übersetzungen dreier Gedichte von Guillaume Métayer, zurzeit Styrian Artist In Residence des Landes Steiermark.
Während Guillaume Métayer in Frankreich eben mit seiner Übersetzung der gesammelten Gedichte Friedrich Nietzsches (in Form, sprich: Reim!), die auch im Bezug auf die deutsche Edition neue Maßstäbe setzt, große Erfolge feiert (s. etwa Rezension in Libération oder Le nouveau magazine littéraire) …
(Foto: lesbelleslettresblog)
… ist er hierzulande hauptsächlich als Dichter bekannt. Dies mag an seinem Gedichtband „Simulakren“ (Yara 2016) ebenso liegen wie an seinen Veröffentlichungen in den manuskripten (z. B. der Essay „Von unserem Sonderberichterstatter in Poesie“, manuskripte 218) und seinen Aufenthaltsstipendien im Rahmen des Styrian Artist in Residence-Programms (2017 und 2019).
(Der junge Nietzsche und sein Übersetzer [v.l.n.r.])
Für die eben erschienenen manuskripte 224 habe ich drei neue Gedichte übersetzt, die Métayers lyrische Bandbreite skizzieren – vom zeitkritischen, ebenso ironischen wie formvollendeten Sonett über die kurze subjektive Reflexion bis zum epischen Langgedicht à la István Kemény (den Métayer ins Französische übersetzt):
FB WORLD
Wir haben erfunden: das Buch der Gesichter
wo jedes Maul wie eine Flaschenpost ist
Wir sind alle zu schön jeder ein Spezialist
darin nett großzutun bei der Jagd auf Irrlichter
Seht hier unsere Posten und Pfoten und Dichter
unser bestes Profil Kleinkram der uns anpisst
Aber weil zurückschnellt was nicht abwürgbar ist
kommt unsere Traurigkeit hoch vor die Richter
Die Glätte des Bildschirms bietet keinen Stopp
Wir sind hier gefangen im großen Als-ob
beim Casting für ein terroristisches Stück
Trauerweide von Pest als Baum unsrer Ahnen
Passfotos wie Aschenfahnen
Fajumporträts sind wir Untote vor Glück
(Schauspielerin Sarah Sophia Meyer liest „FB World“ bei der Präsentation der manuskripte am 26.06.19 in der Stmk. Landesbibliothek, (c) manuskripte)
Recht
Papier Gewalt
Die in Wettbewerb tritt mit dem Gewicht eines Kindes
Tintenseerose
Die all die Zimmer füllt, all meine Zeit.
Verlorenes Juwel
Am Grunde eines Brunnens des Argwohns.
Tunnel der Pflichtfigur
Für den Vitruvianischen Menschen in seinem Spinnennetz.
Von einem nuklearen Epos
Rauch zwischen dem roten Blinken,
Aber die Installation ist nicht in Gefahr.
Das Wasser bleibt glatt, die Leere und die Wand intakt.
Im einzigen Strahl eines schüchternen Mondes
Badet die Spitze eines Zeigefingers,
Beladen mit unendlich codierten Wellen,
Vertrautes Labyrinth, Rivale trüben Wassers,
Milchstraßen, die sich in schwarze Löcher knüllen,
Sandrosen des Himmels …
Dieser Finger, der sich da windet, ähnelt
Einem jener Fische, die zum Licht hochschwimmen,
Wie in einem aufsteigenden Tanz, einem Karussell
Der Kegel, der Marionetten, deren Fäden das Licht wären
Und deren Magnet der Mondstein.
Oder der alte Bärtige, der diesen anstößigen Finger
Beunruhigt, dann befriedigt untersucht,
Erst ganz still, dann mit einem murrenden Sermon
Sicher stellt, dass seine unzähligen taktilen Kanäle
Ihren Platz auf seinem Zeigefinger eingenommen haben: er macht sich bereit, von der Höhe
Des Damms die längste Angel der Welt auszuwerfen,
Ganz hinunter, ganz hinunter, weit weg von diesem Rauch hier,
Der ganz hinauf, ganz hinaufsteigt, auf diesen Mond zu
Und dem Himmel gegenüber, die Hand in der Leere, fühlt er, wie
In Extase, weit weg, das Abendessen zappeln. Danach, es hinaufziehen,
Vorsichtig, über mehrere hundert Meter.
Dann essen, schlafen gehen, wie üblich,
Gemäß der persönlichen Philosophie des Hosha Suru,
Nach der die geringste falsche Bewegung
Einen Sturz aus dreihundert Metern zur Folge hat und den Tod,
Unweigerlich. Ideal einer absoluten Selbstbeherrschung,
Wo das geringste Stampfen für den Schläfer tödlich sein kann,
Außer wenn er in seinem Fall die raue Wand zu krallen kriegt
Und Halt findet in dieser Mauer ohne Griff, deren
Geringste Reliefs für Riesen bemessen zu sein scheinen.
So, mit dem fernen Schnee der Berge als Decke
Und dem blauen Himmel als Schal, nistend
Über diesen verlassenen Amphitheatern,
Diesen Gavarnie´schen Karen, die eine übermenschliche Technik
Von Insel zu Insel säte, als wahrer
Floh auf so manchem Argus aus Beton mit blinkenden Augen,
So lebt seit über zwanzig Jahren Hosha Suru,
Der Verstrahlte.
*
Die manuskripte 224 sind u. a. im manuskripte Webshop erhältlich!
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